Pilgerintensivstation: 100 Kilometer, ein Tag hat 24 Stunden und viele Geschichten

Segen und Regen

Am 27. September 2024 brach ich nach Santiago de Compostela auf. Die zweistündige Busfahrt startete um 9:45 Uhr, der Bus vollgepackt mit Pilgern aus aller Welt. Deutsch, Englisch, Spanisch – ein wildes Stimmengewirr, das die Vorfreude auf die bevorstehenden Erlebnisse widerspiegelte. Nach der Ankunft in Santiago tauchte ich in die Altstadt ein, das erste Mal seit über eineinhalb Jahren. Zwei Stunden hatte ich bis zum Einchecken im Seminario Menor, perfekt, um die Stadt auf mich wirken zu lassen, zu fotografieren und Gespräche mit Pilgern zu führen. Dank meines Facebook-Profils erkannten mich einige, und es entstanden spannende Unterhaltungen über die Pilgererfahrung und meinen heutigen Weg mit dem Rucksack.

Vor dem Seminario traf ich dann auf vier Pilger aus Irland und den USA. Sie hatten den Camino Francés erfolgreich gemeistert, doch alle Unterkünfte waren voll – auch das Seminario Menor. Erschöpft, aber stolz, standen sie dort, ein Bild, das für die Herausforderungen des überfüllten Pilgerwegs steht. Der Weg bringt Menschen zusammen, doch manchmal auch an ihre Grenzen.

Nervosität und Pilgerzahlen im Verhältnis 

Ich hatte Glück und reservierte bereits zwei Wochen vorher meine Unterkunft in Santiago. Wie mir später bestätigt wurde, waren viele Unterkünfte, einschließlich des Seminario Menor und der Hospedería San Martin Pinario, oft für drei bis vier Wochen im Voraus ausgebucht – manche sogar bis zu anderthalb Monate. Der Grund? Seit zwei Jahren gibt es verstärkte Maßnahmen vom Erzbistum, um vor allem Pilgergruppen für die letzten 100 Kilometer zu gewinnen. Besonders junge Pilgergruppen von 100 bis 150 Teilnehmern, die oft in Sarria oder Tui starten, überfüllen ab diesen Punkten die Wege. Für die Langstreckenpilger, die in Porto, Irún oder Saint-Jean-Pied-de-Port begonnen haben, wird es dadurch zunehmend schwieriger, spontane Übernachtungsmöglichkeiten zu finden.

Plattformen wie booking.com und trivago werden zunehmend genutzt, um auf Nummer sicher zu gehen. Früher war es üblich, mehrere Unterkünfte gleichzeitig zu reservieren und sich dann vor Ort spontan für eine zu entscheiden, was nun zum Glück strenger kontrolliert wird. Dennoch führt der Mangel an freien Betten oft zu Verärgerung – viele Pilger müssen den anstrengenden Weg zum Monte de Gozo antreten, oder sagen ihre geplante Weiterreise nach Fisterra und Muxía ab, was auch wirtschaftliche Folgen für diese Regionen hat.

So kommt es, dass selbst weit nach den Sommermonaten täglich knapp 4000 Menschen ein Compostela-Zertifikat erhalten. Die Mehrheit davon besteht allerdings aus großen Gruppen oder Pilgern mit Rollkoffern. Langstreckenpilger auf dem Camino Francés, Camino Portugués und Camino del Norte machen nur noch etwa 1000 bis 1200 der Zertifizierten aus. Andere Pilgerwege werden im Vergleich deutlich weniger beworben und sind daher auch weniger frequentiert.

Ein langes Gespräch in der Kathedrale, der Heilige und der Silberne Sarg

Mit der Zunahme von Gruppenbuchungen steigt auch die Häufigkeit, den berühmten „Botafumeiro“ in der Kathedrale von Santiago in Aktion zu erleben. Früher gab es diesen beeindruckenden Weihrauchschwenker nur zu besonderen Anlässen wie Ostern oder Weihnachten, doch an diesem Wochenende vom 27. bis 29. September 2024 war er sechs Mal zu sehen – allein drei Einsätze am Freitag. Die Preise für eine „Botafumeiro-Session“ haben sich ebenfalls verändert: Was früher 350 Euro für eine Gruppe kostete, kann heute je nach Gruppengröße individuell angepasst werden.

Für viele Neupilger bleibt das Erlebnis atemberaubend, aber als erfahrener Pilger betrachte ich es ein wenig anders. Es erinnert mich an Schokolade: Solange sie rar bleibt, ist der Genuss größer, aber wenn sie im Überfluss vorhanden ist, verliert sie an Besonderheit. Die Magie der besonderen Momente in der Kathedrale scheint mit der Masse der Vorführungen etwas verblasst zu sein. Gleichzeitig sind die Besucherzahlen limitiert, was oft dazu führt, dass man als Einzelpilger kaum eine Chance hat, eine „Botafumeiro“-Vorführung mitzuerleben.

Trotz allem konnte ich am Freitagnachmittag in einer ruhigeren Phase den Heiligen Jakobus auf den Stufen der Kathedrale umarmen und den silbernen Sarg besichtigen. Doch seit den neuen Regeln nach der Pandemie und den strikteren Kontrollen ist viel von der alten Atmosphäre verloren gegangen. Es fühlt sich an, als wären Selfies und Smartphones inzwischen wichtiger als die eigentliche spirituelle Erfahrung.

Ein Gespräch mit einem deutschen Geistlichen aus der Diözese Rottenburg-Stuttgart setzte den Tag fort. Leider lehnte er meinen Wunsch nach einer persönlichen Segnung meines Pilgerwegs ab, da dies nur spezielle Priester übernehmen. Doch die Umarmung der Heiligenstatue und der Besuch des Silbersargs waren dennoch ein würdiger Abschluss dieses besonderen Moments.

Inklusion – ein publikumstaugliches Thema?

Über Inklusion kann man viel sagen. In vielen Ländern wird seit Jahren versucht, Menschen mit besonderen Bedürfnissen besser in die Gesellschaft zu integrieren. Der Erfolg hängt dabei stark von den Einrichtungen, der individuellen Situation und der gesellschaftlichen Haltung ab. Wichtig ist, dass Integration von beiden Seiten ausgeht. Man kann sich nicht in eine Gesellschaft integrieren, die einen ablehnt. Inklusion, also die Umsetzung dieser Integration, ist vor allem für Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen entscheidend, um ein normales Leben führen zu können.

Meine Freunde von der Asociación ASPADEX aus Cee haben mich immer wieder in Gesprächen bestärkt, dieses Thema offen anzugehen. Der Austausch hat mir gezeigt, dass Inklusion nur dann funktioniert, wenn alle Beteiligten sie auch aktiv mittragen. Besonders bei Menschen, die erst durch Unfall oder Krankheit auf Hilfsmittel wie Rollstuhl oder Prothesen angewiesen sind, wird die Inklusion oft schwieriger. Diese Menschen waren einmal „normal“, und der Übergang in ein Leben mit Einschränkungen ist nicht nur für sie selbst, sondern auch für ihr Umfeld eine Herausforderung. Inklusion wird für mich zu einem zweischneidigen Thema: Sowohl diejenigen, die von Geburt an mit Einschränkungen leben, als auch jene, die diese erst später erfahren, haben im Grunde dieselben Bedürfnisse. Doch gerade auf dem Jakobsweg zeigt sich, dass viele Unterkünfte – von einfachen Herbergen bis zu Hotels – auf diese Anforderungen noch nicht vorbereitet sind.

Meine Gespräche haben mir auch verdeutlicht, dass Inklusion zwar ein Thema ist, das in der Gesellschaft eine große Rolle spielt, aber für Pilger und die Tourismusbranche oft erst an dritter oder vierter Stelle steht. Erst wenn Pilger mit Rollstühlen oder Prothesen die Infrastruktur herausfordern, wird die Dringlichkeit erkannt. Doch die meisten Unterkünfte sind noch nicht darauf eingestellt, was für viele Pilger mit Einschränkungen eine große Hürde darstellt.

Junggruppen in Aufbruchstimmung – Ist morgens zum 7 Uhr die Welt tatsächlich in Ordnung?

Es scheint zur Mode geworden zu sein, dass große Jugendgruppen, oft durch mediale Werbung der Erzdiözese Santiago de Compostela angezogen, den Jakobsweg als Abenteuer für sich entdecken. Während dies durchaus ein positiver erzieherischer Effekt sein könnte, fehlt es oft an der richtigen Vorbereitung. Langstreckenpilger erwarten Ruhe und Respekt auf ihrem Weg – stattdessen erleben sie manchmal, wie eine US-amerikanische Pilgerin es treffend formulierte, ein „Pilger-Disneyland mit Attraktionen“.

Mit der richtigen Vorarbeit – sei es durch Eltern, Schulen oder die Aufsichtspersonen – könnten solche Reisen den Jugendlichen Werte wie Respekt und Rücksichtnahme vermitteln, die sie im späteren Leben immer wieder brauchen werden. Am Samstagmorgen, dem 28.09., um 7 Uhr, stand ich jedoch einer Gruppe von 150 Jugendlichen gegenüber, die in ihrer Müdigkeit nur an sich selbst dachten. Sie rückten lautstark Tische und Stühle hin und her und forderten Sitzplätze ein, wo es längst keine mehr gab. Das Chaos war so groß, dass andere Gäste ständig darauf achten mussten, nicht angerempelt zu werden und ihr Frühstück samt heißem Getränk auf der Kleidung zu tragen, anstatt es in Ruhe genießen zu können. Diese Jugendlichen, die von Älteren oft Respekt einfordern, schienen an diesem Morgen vor allem durch Selbstbezogenheit und den Zwang, den Moment mit Selfies festzuhalten, geprägt zu sein.

Zwischenruf

Der Jakobsweg bleibt eine einzigartige Erfahrung, doch die Herausforderungen haben sich in den letzten Jahren verändert. Überfüllte Unterkünfte und die zunehmende Kommerzialisierung lassen den ursprünglichen Charme verblassen. Die Ruhe, die viele Langstreckenpilger suchen, wird oft durch den wachsenden Tourismus und die große Anzahl von Kurzstreckenpilgern, vor allem Jugendlichen, gestört. Eine US-amerikanische Pilgerin beschrieb es treffend als „Pilger-Disneyland mit Attraktionen“. Es fehlt oftmals an Vorbereitung und an der Vermittlung von Werten wie Respekt und Rücksichtnahme. Mit der richtigen Begleitung durch Eltern, Schulen und Aufsichtspersonen könnte der Jakobsweg jedoch ein lehrreicher Ort sein, an dem junge Menschen wichtige Lebenswerte erfahren.

Zudem zeigt sich auf dem Weg, dass das Thema Inklusion im Pilgertourismus noch nicht ausreichend adressiert wird. Menschen mit körperlichen Einschränkungen, die auf Rollstühle oder Prothesen angewiesen sind, stehen oft vor großen Hürden. Viele Unterkünfte sind nicht auf ihre Bedürfnisse vorbereitet, was den Pilgerweg für diese Gruppe erschwert.

Dennoch bleibt der Jakobsweg eine Reise voller Geschichten und Begegnungen, die jeden Pilger prägen. Aber um den Geist des Pilgerns zu bewahren, muss ein Gleichgewicht gefunden werden – zwischen Tradition und den Anforderungen der modernen Zeit sowie zwischen den verschiedenen Pilgergruppen, die den Weg für sich entdecken.

In der Dämmerung losgegangen, In die Dämmerung gegangen, Mitternachtsspitzen 

Inklusion als Thema. 24 Stunden als Zeitbudget. 100 Kilometer als Ziel – vom Praza de Obradoiro, flankiert vom Parlamentsgebäude der galizischen Hauptstadt auf der einen Seite und der Kathedrale von Santiago auf der anderen. Geplant war der Abmarsch um 08:30 Uhr Richtung Fisterra, doch da niemand von der Presse oder dem Fernsehen erschien, obwohl die Pressemeldung rechtzeitig versandt worden war, brach ich schon zehn Minuten früher auf. Beim ersten Anstieg nach dem Verlassen der Stadt, durch ein Waldstück hindurch, bot sich mir ein atemberaubender Anblick: links die Kathedrale am Horizont und rechts ein magischer Sonnenaufgang.

Der Plan war, die ersten 10 bis 15 Kilometer Stück für Stück zu gehen, dann kurze Pausen zur Dehnung und für Getränke einzulegen. Doch spontane Begegnungen unterwegs ließen diesen Plan irgendwann obsolet erscheinen, und so ging ich einfach weiter. Zum Abendessen gab es eine große Schüssel Linseneintopf und ein frisch gezapftes kaltes Bier – jegliche Müdigkeit und die Schmerzen in den Beinen waren damit schnell vergessen.

Nach dem Essen setzte ich meinen Weg in die Dämmerung fort. Ein Tag, der sonnig begann, fand seinen Abschluss bei bewölktem, aber mildem Wetter. Der Weg trug mich durch die Nacht, und nach vier Stunden erreichte ich mit Durst Santa Marina. In absoluter Dunkelheit und nach einigen schwierigen Passagen erreichte ich 20 Minuten vor Mitternacht schließlich Olveiroa. Dank einer Geburtstagsfeier in einer Bar konnte ich dort noch zu später Stunde für eine letzte Rast einkehren. Der Wechsel in den neuen Tag – und zugleich mein Geburtstag – wurde freundlich und gesellig eingeleitet. Ich saß eine Weile mit Cola, Bier und viel Wasser und brachte meinen Körper durch die Flüssigkeitsaufnahme wieder in Schwung. Nach knapp 60 Kilometern lag der restliche Weg nach Fisterra vor mir, das ich planmäßig um 10 Uhr erreichen wollte.

Wer nach oben geht, muss irgendwann wieder nach unten

Die letzten 40 Kilometer des Jakobswegs sind besonders herausfordernd, und ein ungeübter Pilger wäre besser beraten, sich auszuruhen und für den nächsten Tag neue Kraft zu tanken. Da mein letztes Pilgerabenteuer zwei Jahre zurücklag und ich nur sporadisch trainiert hatte, fühlte ich mich nicht wirklich fit. Mit dem Wissen vergangener Langstrecken über 100 Kilometer ging ich dennoch optimistisch weiter. Was ich jedoch unterschätzte, war die körperliche Regeneration, die in meinem Alter – nur zwei Jahre vor dem 60. Geburtstag – langsamer verläuft. Das sollte mir nachts schmerzlich bewusst werden.

Von Olveiroa ging es nach Hospital, dann weiter zum Kreisverkehr, wo sich der Weg nach Fisterra und Muxía teilt. Eigentlich hatte ich geplant, einen Umweg über Dumbría zu machen, um einen Waldweg nach Cee zu nehmen. Doch die Dunkelheit machte es unmöglich, sicher über die unbeleuchteten Feld- und Waldwege zu gehen. Ich entschied mich, die Route anzupassen und über die Verbindungsstraße nach Brens zu gehen. Diese asphaltierte Straße mit einem Gefälle von etwa 10 % und einer Länge von 11 Kilometern war zwar sicherer, doch der Abstieg erwies sich als unvergesslich schmerzhaft.

Mit jedem Schritt verlor ich an Tempo, und bald spürte ich einen brennenden Schmerz in meinem rechten Fuß und in beiden Oberschenkeln. Hinzu kam, dass ich zu dieser späten Stunde kein Wasser dabei hatte. Aus den geplanten drei Stunden Abstieg wurden schließlich geplagte vier Stunden voller Schmerzen. Dadurch blieb kaum Zeit für eine Pause oder Erholung, und die Möglichkeit, mit einer Dehnpause neue Energie zu schöpfen, war dahin. Doch manchmal hat man einfach keine andere Wahl, als weiterzugehen. Vor allem, wenn man sich dieses Leiden (wenn auch ungewollt) selbst ausgesucht hat. Zähne zusammenbeißen und durch die Situation. Denn irgendwas geht immer, selbst der Schmerz früher oder später.

Aua – Darf man über Schmerzen sprechen? Und wenn ja, Warum nicht?

Schmerzen – sie sind die ständigen Begleiter eines Pilgers. Sie kommen, bleiben eine Weile und verabschieden sich hoffentlich schnell wieder, sobald man das Ziel erreicht. Doch als ich das Ende des Abstiegs in Brens erreichte, war eines sicher: Der brennende Schmerz in meinem rechten Mittelfuß, der mich seit einem Unfall im Jahr 2021 begleitet, war alles andere als vergesslich. Jeder Schritt fühlte sich an, als ob ein kleiner Trommler in meinem Fuß unaufhörlich auf die Pauke schlug. Doch das Ziel – 10 Uhr in Fisterra – lag noch vor mir, also blieb der Rhythmus erhalten.

Dann kam ein kleines Wunder in Form eines unscheinbaren Wasserhahns am Wegesrand. Ein paar Schlucke Leitungswasser, und plötzlich schien der Fuß zumindest bereit, den Marsch fortzusetzen. Die nächsten 17 Kilometer waren zwar kein Spaziergang im Park, aber der Hafen von Brens und das Krankenhaus von Cee flogen hinter mir vorbei – zumindest in meiner Vorstellung. Doch als ich die steile Steigung nach Corcubión erreichte, konnte ich den aufsteigenden Schrei gerade noch unterdrücken. Die umliegenden Häuser sollten nicht wegen meines Fußes aufwachen!

Fünf tiefe Atemzüge später war klar: Dieser Weg wird kein leichter sein, und mein Fuß hatte definitiv seinen eigenen Plan. Jeder Schritt fühlte sich an, als hätte ich auf einen Kaktus getreten, aber Aufgeben? Keine Option. Meine Gedanken drehten sich so schnell, dass ich beinahe Kopfschmerzen bekam. Dann, in einem erleuchteten Moment, erkannte ich: Wenn ich jetzt weitermache, ruiniere ich mich nur selbst – und das hilft weder mir noch meinen Freunden von der Asociación ASPADEX, noch der erweiterten Umsetzung für Pilger auf dem Pilgerweg etc. Also entschied ich mich (wohl) klugerweise für meine Gesundheit und rief zuhause an, um mich abholen zu lassen.

Und wisst ihr was? Manchmal ist es einfach besser, sich selbst einzugestehen, dass man ein Mensch ist, der auch mal Pause machen darf. Mein Körper fand in Sekundenschnelle eine Ruhe, die mich den ganzen Tag bereits beeindruckt. Denn am Ende wissen wir alle, was gut für uns ist. Aber diese Erkenntnis in einem Moment körperlicher Krise zu haben, ist ein wahres Geschenk. Dafür bin ich dankbar – trotz des kleinen Trommlers in meinem rechten Fuß.

Der Empfang am Faro von Fisterra

Nach der körperlichen und mentalen Achterbahnfahrt, besonders in den letzten, nächtlichen Abschnitten des 100 Kilometer Extrem-Caminos, fand alles ein versöhnliches Ende. Trotz aller Herausforderungen und Schmerzen hatte ich es geschafft, den Weg so weit wie möglich bis zum Ende zu gehen. Um 10 Uhr vormittags wurde ich am 0,0 km Meilenstein des Camino de Fisterra begrüßt – von niemand Geringerem als der Bürgermeisterin Auréa Dominguez Sisto persönlich. Gemeinsam machten wir ein Foto, das diesen Moment festhielt. Die zweite Person, die bei diesem besonderen Empfang dabei war, war meine Mutter. Ansonsten war die Szenerie fast menschenleer – der Wind pfiff, der Himmel war grau, und es war nur wenig los. Doch gerade das passte perfekt zu diesem ruhigen Abschluss einer intensiven Reise.

Für diese besondere Geste möchte ich der Bürgermeisterin von Fisterra, Auréa Dominguez Sisto, meinen herzlichsten Dank aussprechen. Es war nicht selbstverständlich, dass sie sich die Zeit nahm, mich nach meiner 100-Kilometer-Erfahrung am Faro zu begrüßen. Ihre Anwesenheit machte diesen Moment zu einem umso bedeutungsvolleren Abschluss meines Caminos.

Der zweite Empfang 

Gegen 11:30 Uhr, nach dem offiziellen Empfang, trafen sich einige meiner Freunde von der Asociación ASPADEX mit mir im Restaurant O Centolo, um meinen 58. Geburtstag zu feiern. Der Umtrunk mag bescheiden gesehen werden mit – Mineralwasser, Kaffee und Cola – doch die Atmosphäre war herzlich, fröhlich und voller Freude. Der Höhepunkt kam, als Cristobal, ein lieber Freund und talentierter Gaitero, die Bühne betrat. Cristobal, der selbst von der Asociación ASPADEX betreut wird, hatte sich nicht nur die Mühe gemacht, extra nach Fisterra zu kommen, sondern spielte auch beherzt auf seiner galicischen Gaita.

Sein Ständchen, vor der malerischen Kulisse des Hafens von Fisterra, war der perfekte Abschluss dieser intensiven Reise. Es war für mich nicht selbstverständlich, dass er den weiten Weg auf sich nahm, um diesen Moment mit seinem Spiel zu bereichern. Cristobals Hingabe und sein musikalischer Beitrag berührten mich zutiefst – es war ein Moment, den ich so schnell nicht vergessen werde.

Ich leg mich wieder hin

Manche Dinge sollte man nur einmal tun – nicht, weil sie langweilig werden, sondern weil sie einem beim ersten Mal schon alles abverlangen. Doch das Entscheidende ist, was man daraus lernt und wie man es auf zukünftige Projekte überträgt. Die 100-Kilometer-Etappe hat mir erneut gezeigt, wie wichtig es ist, den Rhythmus zu halten: Atmen, durchhalten, und vor allem Schritt für Schritt vorangehen. Wer zu Beginn zu viel gibt, dem könnte zum Schluss die Luft ausgehen. Kleine, regelmäßige Pausen zum Energietanken, Trinken und Ausruhen sind unverzichtbar. Dabei gilt: Maß halten – aber das richtige Maß ist für jeden individuell.

Die größte Erkenntnis dieses Weges war für mich, auf meinen Körper zu hören und äußeren Druck sowie Erwartungen loszulassen. Genau das tat ich, als ich in Corcubión den Moment erlebte, in dem ich alles losließ. Diese Erfahrung hat mich gelehrt, wie viel man erreichen kann, wenn man sich den Raum gibt, den man braucht.

Und so, mit der letzten Restmüdigkeit in den Knochen, lege ich mich heute noch einmal etwas früher hin, um morgen wieder komplett einsatzbereit zu sein – bereit für alles, was kommt.

Also nochmal gesagt

Die letzten Abschnitte spiegeln die Intensität und Herausforderungen eines 100-Kilometer-Pilgerwegs wider. Jeder Schritt, jede Etappe birgt ihre eigenen Prüfungen, von mentaler Ausdauer bis hin zu körperlichen Grenzen. Der Weg in die Dämmerung und durch die Nacht verdeutlicht die Kraft des Durchhaltens, aber auch die Wichtigkeit, sich den eigenen Grenzen bewusst zu sein. Ob der schmerzhafte Abstieg, bei dem der Körper seine eigenen Regeln diktiert, oder der Moment, in dem man erkennt, dass es klüger ist, die Gesundheit über das Ziel zu stellen – der Camino lehrt nicht nur Geduld, sondern auch Demut.

Besonders die kleinen Momente, wie der unerwartete Empfang am Faro von Fisterra durch die Bürgermeisterin oder das herzliche Spiel von Cristobal, zeigen, dass dieser Weg nicht nur aus Strapazen besteht. Es sind die Begegnungen, die den Camino zu einer unvergesslichen Erfahrung machen. Jeder Schritt war ein Lernprozess, und die Schlussfolgerung bleibt klar: Es geht nicht nur darum, das Ziel zu erreichen, sondern auch darum, sich Zeit zu nehmen, zu reflektieren, und auf den eigenen Körper zu hören.

Am Ende, nach all den Schmerzen und den lehrreichen Momenten, bleibt die Erkenntnis: Manchmal ist es besser, innezuhalten, sich auszuruhen und bereit zu sein für das, was als Nächstes kommt. Der Weg ist nicht nur physisch, sondern auch mental eine Reise, die mit jedem Schritt neue Einsichten schenkt.

Ein Fazit zu dem Allen in 3 Tagen

Der Jakobsweg hat sich im Laufe der Jahre verändert – und mit ihm auch die Erfahrung des Pilgerns. Wo früher die Stille und die innere Einkehr dominierten, findet man heute nicht selten große Jugendgruppen, die sich lautstark durch die Herbergen bewegen, während Selfies den Moment der Reflexion verdrängen. Eine clevere US-Pilgerin brachte es treffend auf den Punkt: „Es fühlt sich an wie ein Pilger-Freizeitpark mit Attraktionen.“ Und manchmal ist genau das der Fall. Morgens um 7 Uhr beginnt das Stühlerücken, das Chaos am Frühstückstisch, und der Drang, den Tag digital festzuhalten, steht bei vielen über der eigentlichen Pilgererfahrung.

Ein weiteres Kapitel des modernen Pilgerns schreiben soziale Reiseplattformen Booking.com und Trivago in Verbindung mit den Rezensionen bei Google. Ohne Wochen im Voraus reservierte Betten bleibt vielen Pilgern oft nur die (desillusionierende?) Rückkehr zum Monte de Gozo – oder das vorzeitige Ende ihrer Reise. Und während sie sich so den Weg durch die letzten Kilometer bahnen, wartet die Costa da Morte vergeblich auf die ersehnte Ankunft der erschöpften und doch glücklichen Wanderer, die für sich selbst so viel erreicht haben. Viele von ihnen entscheiden sich angesichts der Massenpilgerei und der Ernüchterung nach Erhalt von Compostela und Rückkehr zum Monte de Gozo, den Weg nicht weiter bis nach Fisterra oder Muxía fortzusetzen.

Doch auch der teils ernüchternde Rückweg zum Monte de Gozo ist eine wertvolle Pilgererfahrung. Genau dort, an diesem Punkt, stellt sich die ultimative Frage: Gebe ich auf, oder bringe ich die letzte Motivation auf, um doch noch die lohnenswerten Ziele am Ende der Welt zu erreichen? Es ist der Moment, in dem die wahren Ziele nicht nur geografisch, sondern auch mental greifbar werden. Diese Entscheidung, ob man weitermacht oder aufgibt, ähnelt den Erfahrungen der letzten 100 Kilometer. Dort, wo Schmerzen, Müdigkeit und der Kampf mit sich selbst allgegenwärtig sind, schwankt man zwischen dem Wunsch, den nächsten Schritt zu wagen, und dem Verlangen, einfach aufzugeben.

Trotz aller Herausforderungen und der fortschreitenden Kommerzialisierung bleibt der Jakobsweg eine Reise voller Bedeutung – sowohl für die, die nur die letzten 100 Kilometer laufen, als auch für die, die den ganzen Weg von Anfang an gehen. Der Camino verändert sich zwar, doch es liegt an jedem Einzelnen, das Wesentliche nicht aus den Augen zu verlieren: den eigenen Rhythmus zu finden, auf den Körper zu hören und sich den Raum zu geben, den man braucht, um innerlich zu wachsen.

Am Ende des Tages, egal wie laut die Massen um einen herum sind oder wie viele Betten vorab reserviert wurden, spielt sich der wahre Jakobsweg im Inneren jedes Pilgers ab. Und genau dort liegt der wahre Geist des Pilgerns. Ein Augenzwinkern hilft dabei, wenn man sich inmitten der „Selfie-statt-Stille“-Pilger wiederfindet, denn genau darin liegt die Essenz: Der Weg ist nicht nur ein geografischer Pfad, sondern eine Reise zu sich selbst.

Für mich persönlich war dieses Wochenende eine lehrreiche und wertvolle Erfahrung. Es hat mir gezeigt, dass auch heute, inmitten der digitalen Ablenkungen und der kommerziellen Herausforderungen, der Camino noch immer seine Lehren bereithält. Es war eine Erinnerung daran, wie wichtig es ist, die Geschichten dieses besonderen Weges zu teilen und die Bedeutung des Pilgerns in der modernen Welt weiterzutragen. Und ja, auch für mich als Journalist stellt dies die nächste Herausforderung dar – nicht nur als Pilger, sondern auch als Publizist und Geschichtenerzähler.

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